Empfehlungen

Kinderhandel ist ein schweres Verbrechen und muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Besonders wichtig ist dabei in allen Bereichen und Verfahrensschritten der respektvolle Umgang mit dem Kind – frei von Diskriminierung.

Das übergeordnete Interesse des Kindes muss stets berücksichtigt und das Kind in alle Entscheide einbezogen werden. Die folgenden Empfehlungen sind bei der Erarbeitung dieses Handbuchs im Austausch mit verschiedenen in der Praxis tätigen Organisationen (FIZ, IOM, SFH, SSI) entstanden.

Allgemeine Empfehlungen und Grundsätze

Altersbestimmung

Bei nicht eindeutigem Alter soll ein multidisziplinärer Abklärungsprozess durchgeführt werden, der äusserliche körperliche Merkmale, die psychische und kulturelle Entwicklung und den entwicklungspsychologischen Reifegrad miteinbezieht. Dabei sollen ganzheitliche Methoden angewendet werden, zu denen zum Beispiel Interviews mit Psychologinnen und Psychologen oder Kulturvermittlerinnen und -vermittlern gehören. Es ist ratsam, mehr auf die psychologische Entwicklung des Kindes als auf sein physisches Erscheinungsbild zu achten. Die Anwendung der rein medizinischen Drei-Säulen-Methode ist problematisch, da die Sicherheitsmarge medizinischer Analysen nach wie vor eher gering ist und sich die Röntgenstrahlen schädlich auf das Kind auswirken können. Daher sollte diese Methode nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Die Prüfung der Geschlechtsreife soll gar nicht vorgenommen werden, da sie eine Verletzung der Würde, der Privatsphäre und der Integrität des Kindes darstellt.1

Spezialisierter Schutz bei der Verdachtsabklärung

Kommt es zu einem Anfangsverdacht auf Kinderhandel, muss dieser sofort bei einer spezialisierten Opferschutzstelle und bei der KESB gemeldet und das Kind zur Identifizierungsphase in eine sichere und geschützte Unterkunft gebracht werden. Dies unabhängig davon, ob es in der Schweiz oder in einem anderen Land ausgebeutet worden ist. Ein Bundesasylzentrum bietet nicht den Schutz und die Betreuung, die nötig sind. Es braucht spezialisierte Schutzeinrichtungen für minderjährige Opfer von Menschenhandel.

Non-Punishment Rule

Ein Kind, das zu kriminellen Handlungen gezwungen wird, darf nicht dafür bestraft werden. Im Bereich Kinderhandel (und Menschenhandel) gilt das Prinzip der Strafbefreiung bei allen Delikten, die das Opfer in diesem Zusammenhang begehen musste. Das Kind hat Anrecht auf angemessene Betreuung und Schutz. Eine Strafe ist unzulässig.

Präventiver Ansatz

Damit Kinder, die von Menschenhandel betroffen sind, eine Chance haben, als Opfer erkannt und geschützt zu werden, braucht es Behörden, die für Kinderhandel sensibilisiert sind. Es bedarf einer institutionalisierten Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller involvierten Behörden und anderer Fachleute. Dazu gehören insbesondere die Polizei, Migrationsbehörden, die Grenzwacht, spezialisierte Opferschutzstellen, Gerichte, Jugendgerichte, Jugendanwaltschaften, die KESB, kantonale Kinderschutzgruppen sowie Sozial- und Jugendämter. Die Schulung und die Sensibilisierung von Fachpersonen, die mit potenziellen Opfern in Kontakt treten, sind angesagt, damit sie auch Risikosituationen rechtzeitig erkennen können und es gar nicht erst zu einer Ausbeutung kommt.2

Vernetzungs- und Kooperationsmechanismen

Effektiver Kindesschutz erfordert eine starke Vernetzung und eine überinstitutionelle Zusammenarbeit. Die kantonalen «Runden Tische Menschenhandel» müssen gestärkt sowie Vertretungen aus dem Asylbereich und der KESB sowie der Arbeitsinspektion eingebunden werden. Sämtliche kantonalen «Runden Tische Menschenhandel» müssen sich mit Kinderhandel befassen und auf die Besonderheiten im Umgang mit minderjährigen Opfern eingehen. Um das Wohl des Kindes sicherzustellen, braucht es zudem eine interinstitutionelle Zusammenarbeit sowie die Vernetzung von Behörden und Fachstellen, auch über die Kantonsgrenzen hinweg.

Verdachtsfälle und Gefährdungssituationen müssen in den kantonalen «Runden Tischen Menschenhandel» diskutiert und der Fachstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (FSMM) weitergeleitet werden, damit Tendenzen erkannt und die nötigen Massnahmen auf Bundesebene getroffen werden können. Klare, breit abgestützte Leitprozesse zur Umsetzung auf kantonaler Ebene müssen bestehen.

Bei minderjährigen Betroffenen von Menschenhandel müssen Kinderrechte und Opferschutz ineinandergreifen: Es muss gewährleistet sein, dass die schweizerischen Behörden die rechtlichen Grundlagen im Einzelfall (auch im Asylbereich oder in Zusammenhang mit Kriminalität) kindgerecht umsetzen. Im Sinne der Rechtsgleichheit soll daher das rechtskonforme Vorgehen in breit abgestützten Empfehlungen an die involvierten Behörden und Stellen festgehalten werden. Dazu gehören Empfehlungen 3:

  • zum Vorgehen bei Verdacht
  • zum Aufenthalt und zum Zugang zu Opferhilfemassnahmen
  • zur speziellen Betreuung und zur dauerhaften Lösung

Datenerhebung

Da ein klarer Entscheid hinsichtlich der Frage, ob ein Kind Opfer von Kinderhandel ist oder nicht, oftmals schwierig ist (Fallbeispiel Altersfrage Non-Punishment Rule), ist es wichtig, dass nicht nur identifizierte Fälle, sondern auch Verdachtsfälle an einer zentralen Stelle gemeldet und statistisch erfasst werden können.

 

1 Vgl. Europarat, Resolution 2195/2017; FRA, 2018, S. 8, Abs. 2; EASO, praktischer Leitfaden zur Altersbestimmung, S. 63.  und Art. 10 Abs. 3 ÜBM: „Wenn das Alter des Opfers nicht bekannt ist und Anlass zu der Annahme besteht, dass es sich bei dem Opfer um ein Kind handelt, ist es als Kind zu betrachten und sind ihm bis zur Feststellung seines Alters besondere Schutzmassnahmen zu gewähren.“

2 Vgl. dazu NAP3 Massnahme 2

3 Vgl. NAP3 Massnahme 6.1 und 6.2 

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