Etappe 3 Beschleunigtes Verfahren (Art. 26c Asylgesetz)

Vor der Anhörung durch das SEM findet erneut ein Vorbereitungsgespräch mit der Rechtsvertretung statt.

Plant das SEM nach der Anhörung die Ablehnung des Asylgesuchs, wird der Rechtsvertretung ein Entscheidentwurf zugestellt. Diese bespricht den Entwurf mit der Asyl suchenden Person und reicht eine Stellungnahme dazu ein.

Bei Verdacht auf Menschenhandel führt das SEM eine zusätzliche Befragung durch, um die Hinweise zu überprüfen und mehr Informationen zum Tatbestand Menschenhandel zu gewinnen. In der Regel findet diese Befragung vor der Anhörung zu den Fluchtgründen statt. Bestätigt sich der Verdacht, so gewährt das SEM eine Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen (Art. 13 ÜPM).

Akteur:innen, die in dieser Phase in Kontakt mit dem Kind stehen:

  • Befrager:in SEM
  • Betreuungs- und Sicherheitspersonal BAZ
  • Protokollführer:in
  • Rechtsberatung/-vertretung bzw. Vertrauensperson
  • Pflegepersonal BAZ
  • Seelsorgende
  • Dolmetscherin/Dolmetscher
  • Lehrpersonen
  • Freiwillig Engagierte
  • Rückkehrberatung IOM

In dieser Etappe besonders zu beachtende Warnsignale

Das Kind

  • gibt an, bereits volljährig zu sein, wirkt jedoch deutlich jünger.
  • erzählt eine klischeehafte, einstudiert wirkende Geschichte, die derjenigen anderer Kinder aus demselben Land ähneln.
  • kann die Geschehnisse in der Heimat oder auf der Reise nur bruchstückhaft wiedergeben und hat viele Lücken in der Erinnerung.
  • ist mit einer deutlich älteren Person verheiratet, die bereits in der Schweiz einen Asylantrag gestellt hat, und die Geschichten oderDatumsangaben der beiden sind nicht kongruent (Hinweis auf Zwangsheirat).
  • verfügt über ein sehr schlechtes Selbstbild und ein geringes Selbstbewusstsein und zeigt Spuren von Selbstverletzungen wie Ritzen, oder es gibt Hinweise auf Essstörungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder Promiskuität.
  • zeigt Anzeichen von Depressionen, Angstzuständen, Schlafstörungen oder Konzentrationsschwierigkeiten.
  • befindet sich in Begleitung Erziehungsberechtigter, die ausserstande oder nicht gewillt scheinen, es zu schützen.

Liegen zwar vage Hinweise, aber kein bestätigter Verdacht auf Kinderhandel vor, so kann folgenden Punkte nachgegangen werden:

  • Musste das Kind bereits auf der Reise die Schulden für eine Teilroute abarbeiten und ist somit Opfer von Kinderhandel geworden?
  • Antwortet das Kind ausweichend auf Fragen über die Organisation und die Bezahlung der Reise?
  • Wiederholt es die klischeehafte, unglaubwürdige und einstudiert wirkende Geschichte, die es bereits bei der Erstbefragung angegeben hat?
  • Hat das Kind Mühe, auf Nachfragen das Vergangene kohärent und glaubwürdig zu schildern, und wirkt verwirrt und abwesend?

Die befragenden Personen müssen den Hinweisen nachgehen. Tun sie dies nicht, muss die Rechtsvertretung/Vertrauensperson weitere Abklärungen anregen.1 Wichtig: keine Antworten forcieren! Dies kann dazu führen, dass der oder die Minderjährige falsche Aussagen macht2 oder retraumatisiert wird.

Erhärtet sich der Verdacht auf Kinderhandel, muss dem Opfer eine Erholungs- und Bedenkzeit gewährt werden. Zudem sind umgehende Schutz- und Unterstützungsmassnahmen gemäss Art. 12 ÜPM erforderlich. Dabei ist die Zusammenarbeit mit einer spezialisierten Opferhilfeorganisation angesagt.

Hinweise auf Kinderhandel können sich zu jedem Zeitpunkt während oder auch nach dem Asylverfahren zeigen. Sie sind in jedem Fall ernst zu nehmen. Vertiefte Abklärungen und angemessene Schutz- und Unterstützungsmassnahmen müssen umgehend eingeleitet werden, auch wenn ein Verdacht erst nach der Anhörung zu den Asylgründen entsteht.

Zusätzliche Massnahmen in Etappe 3

  • Alle Akteur:innen, die mit dem Kind in Kontakt sind: Verdachtsmomente der zuständigen Person beim SEM melden
  • SEM: die internen und externen Partner und Organisationen informieren, die mit dem Kind in Kontakt sind oder sein werden (Beratung, Rechtsvertretung, Betreuung und Sicherheit, Gesundheit, Seelsorge, Rückkehrberatung und gegebenenfalls andere)
  • Mit einer Opferhilfestelle und der KESB Kontakt aufnehmen
  • Dem Kind Erholungs- und Bedenkzeit gewähren und Schutzmassnahmen gemäss Art. 12 ÜBM einleiten
  • Bei der Prüfung des Asylgesuches die mögliche Asylrelevanz des Menschenhandels beachten

Auswirkungen auf den Asylentscheid

  • Gemäss Art. 3 lit. c des Palermo-Protokolls ist die Ausbeutung von Kindern als Menschenhandel zu qualifizieren, auch wenn keine Zwangsmittel angewendet worden sind. Bei Kindern ist das Einverständnis irrelevant, sogar wenn das Kind bewusst in die Ausbeutungssituation eingewilligt hat.
  • Kinderhandel ist als Verfolgung zu qualifizieren,3 denn die betroffenen Kinder werden von den Menschenhändlerinnen und -händlern oftmals aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Alter, Geschlecht oder sozialer Stellung ausgewählt. Kinderhandel kann somit bei der Prüfung des Asylgesuchs durchaus ein relevanter Faktor sein und dazu führen, dass das Kind die Flüchtlingseigenschaft erfüllt.4
  • Fällt der Asylentscheid negativ aus, darf dennoch keine Rückführung vorgenommen werden, wenn diese gegen das Kindeswohl verstösst: «Opfer, die Kinder sind, werden nicht in einen Staat zurückgeführt, wenn es nach Durchführung einer Risiko- und Sicherheitsbeurteilung Hinweise darauf gibt, dass eine Rückführung nicht zum Wohle des Kindes wäre.»5

1 Vgl. Nula Frei, Menschenhandel und Asyl: Die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Opferschutz im schweizerischen Asylverfahren. Baden-Baden 2018, S. 157 f.

2 Vgl. Susanne Meier, Kindesvertretung: Eine Bestandesaufnahme mit Plädoyer für die Willensvertretung, in: Zeitschrift für Kindes- undErwachsenenschutz 5/2015, S. 350.

3 Vgl. Nula Frei, Menschenhandel und Asyl: Die Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Opferschutz im schweizerischen Asylverfahren. Baden-Baden 2018, S. 243.

4 Vgl. ibid., S. 285 ff.

5 Vgl. Art. 16 Abs. 7 ÜBM.

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